Meine (gekürzte Rede) anlässlich der Gedenkfeier in Brakelsiek
Ich danke Ihnen, dass wir heute am Volkstrauertag in so großer Zahl hier zusammengekommen sind, um gemeinsam der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft, aber auch der Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung zu gedenken.
Zu Beginn meiner Rede möchte ich heute einen Brief vorlesen. Es handelt sich um den Brief einer Ehefrau, die in Ungewissheit auf ein Lebenszeichen ihres Ehemannes wartet, der sich an der Westfront befindet. Geschrieben am 24. September 1916, also vor einhundert Jahren:
„Mein inniggeliebter Otto!
Ich weiß nun meinem Herzen nicht weiter Luft zu machen, als mich in Schreiben zu vertiefen. Dein Bild steht vor mir, und so oft ich dieses ansehe, denke ich an unseren letzten Abend.
Mein guter Otto, seit Dienstag bin ich ohne Nachricht von Dir. Auf keinem Fleck habe ich Ruhe. Tu mir, mein Schatz, nur das nicht an und lass mich so lange warten. Wo ich nun weiß, Du bist dort fortgekommen, nur weiß ich nicht, wohin.
Dass Du aber weiter vor bist, kann ich mir denken. Auch bist Du gewiss schon im Gefecht. Ach möge Dich doch dort der liebe Gott glücklich wieder herausführen.
Du hast doch sonst immer, wenn irgend es Deine Zeit erlaubte, uns geschrieben. Wir warten so sehnsüchtig auf Deinen uns versprochenen Brief. Bis morgen will ich noch hoffen (…). Bekomme ich aber auch morgen nichts, weiß ich nicht mehr, was ich denken soll. Also, mein treuer Schatz, vergiss uns nicht. Bedenke meine Unruhe.“
Vielleicht kann sich der ein oder andere in die Situation hineinversetzen. Was muss das für eine quälende
Ungewissheit sein? Welche Angst und Verzweiflung? Jeden Tag wissend, dass der Mann fallen kann und jeden Tag hoffend, dass dies doch nicht passiere?
Der Brief kam übrigens nach einiger Zeit zurück – ungeöffnet!
Dafür mit dem Vermerk: „auf dem Felde der Ehre gefallen, er starb den Heldentod“
Am Volkstrauertag denken wir viel über die Vergangenheit nach, über die deutsche Vergangenheit und das heißt insbesondere über die beiden Weltkriege. Aber wenn wir ehrlich sind, können mit dem Volkstrauertag nicht mehr viele Menschen etwas anfangen. Vielleicht nicht hier in Brakelsiek, hier nehmen relativ viele Bürgerinnen und Bürger an dieser Gedenkveranstaltung teil. Das ist aber nicht überall so.
Volkstrauertag hat irgendetwas mit Krieg, mit Soldaten, mit Schicksalen einer anderen Generation zu tun. Also, mit Vergangenem! Wir leben hier in Deutschland so lange schon in Frieden. Brauchen wir also überhaupt noch so einen Gedenktag?
Ich antworte eindeutig und mit tiefster Überzeugung: Ja! Ja, wir brauchen so einen Gedenktag. Wir brauchen die Erinnerung, um die Zukunft zu gestalten und zwar mehr denn je.
Die Gräber der Kriegstoten und der Volkstrauertag dienen der individuellen Trauer. Allerdings rückt diese Trauer des Einzelnen zunehmend in den Hintergrund.
Die Gräber der Kriegstoten und der Volkstrauertag dienen aber auch der kollektiven Erinnerung. Es geht nicht um eine fragwürdige Heldenverehrung. Es geht vielmehr darum, sich der mahnenden Vergangenheit zu erinnern.
Aus den Gräbern der Kriegstoten und dem Volkstrauertag ergibt sich gerade für uns Deutsche eine Verpflichtung. Die Verpflichtung unserer Vergangenheit zu gedenken und die Verpflichtung, dass wir mit unserer Zukunft verantwortungsvoller umgehen.
Beide Weltkriege haben insgesamt 80 bis 90 Millionen Menschenleben gekostet. Die Zahlen schwanken sehr stark, je nachdem, welche Quelle man heranzieht. Aber das ist auch nicht entscheidend. Es ist so oder so eine unglaubliche Zahl, die man sich nicht vorstellen kann. Auch wenn man es versucht, es bleibt letztlich eine mehr oder weniger abstrakte Zahl.
Etwas näher kommt man dem schon, wenn man sich fragt, wie viele Tote es hier in Brakelsiek gegeben hat. Am Ehrenmal hier auf dem Friedhof in Brakelsiek stehen die Namen der gefallenen Soldaten. Es sind 135 Namen. 135 Brakelsieker, die in den beiden Weltkriegen ihr Leben lassen mussten. Das sind nur die Soldaten, nicht andere Opfer!
Und auch, wenn man die gefallenen Soldaten vielleicht nicht kannte, findet man unter ihnen bekannte
Brakelsieker Namen: Tölle, Steinmeier, Klaus, Klenke, Heißenberg, Lessmann usw.
Und nun wird alles schon ein bisschen persönlicher. Vielleicht kann der Ein oder Andere jetzt ansatzweise nachempfinden, welches Leid diese Kriege verursacht haben.
Und trotzdem verblassen die Erinnerungen.
Der 1. Weltkrieg ist 98 Jahre vorbei und der 2. Weltkrieg 71 Jahre.
Es sind nur noch wenige Brakelsieker, die sich an eigene Kriegserlebnisse erinnern können und wenn doch, dann meist an ihre Kinder- und Jugendzeit. Nicht aber an die Zeit als Soldat oder als Ehefrau eines Soldaten.
Es wird also schwieriger, die Erinnerung wachzuhalten. Aber es ist unsere Pflicht. Wer seine Vergangenheit vergisst, ist dazu verdammt, seine Fehler zu wiederholen. Verblasst die Erinnerung, verliert das Unrecht, verliert der Krieg seinen Schrecken. Ich habe daher die Bitte an diejenigen unter uns, die sich noch an eigene Erlebnisse erinnern können: Verschweigen Sie Ihre Erinnerungen nicht. Lassen Sie uns teilhaben an diesen Erinnerungen. Helfen Sie uns, diese Erinnerungen wachzuhalten!
Gucken Sie sich doch um, was in der Welt zurzeit passiert!
Die Welt ist nicht im Lot! Deutschland ist nicht im Lot!
Wir sind nicht nur anfällig dafür, uns vom Hass anstecken zu lassen, es gibt zu viele Menschen, die sich bereits wieder angesteckt haben.
Dabei sind es nicht nur die zahlreichen Kriege auf der Welt, die mir Sorgen machen.
Es ist die Veränderung in unserer Gesellschaft, es sind die Veränderungen in unserer Wertegemeinschaft, die mir Sorgen machen. Ich stelle eine schleichende Veränderung unserer Werte fest und ich
frage mich, wo dieser Weg hinführt. Was steht am Ende dieses schleichenden Prozesses?
Auch die unsägliche Zeit des Dritten Reiches ist nicht über Nacht über uns hereingebrochen und kein Krieg bricht plötzlich aus. Ihm geht immer ein schleichender Prozess voraus. Es ist immer eine Entwicklung dorthin, eine Entwicklung in der sich die Werte verschieben.
Fällt es eigentlich nur mir auf und macht es nur mir Sorgen oder auch noch anderen?
Wir benutzen wieder eine Sprache, die wir bereits während der dunkelsten Kapitel der Deutschen Geschichte benutzt haben und es scheint, als wäre das normal.
Da wird von „Lügenpresse“ gesprochen. Unsere Kanzlerin wird offen als „Volksverräterin“ beschimpft. Überhaupt wird das Wort „völkisch“ wieder salonfähig gemacht. Das sitzt ein deutscher hochrangiger Politiker sonntags Abend in einer Talkshow und bezeichnet die Präsidentschaftskandidatin in den USA als „Terroristin“.
Das ist die Sprache der Nazis, das ist die Sprache des Dritten Reiches!
Dann ist da auch noch dieser Hass, der uns überall begegnet. Ich hätte niemals gedacht, dass wir mit unserer Vergangenheit jemals wieder so offen den Hass nach außen tragen.
Unsere Antwort darauf darf aber nicht auch Hass sein. Hass bekämpft man nicht mit Hass. Lassen Sie uns mit Respekt und der Achtung der Menschenwürde darauf antworten.
Ich habe meinen Kindern zu lehren versucht, Toleranz zu üben, Aufrichtig zu sein, anderen Respekt zu zollen und vor allem die Würde der anderen zu wahren.
Und was haben meine Kinder aktuell gelernt?
Wenn man alle diese Werte missachtet,
wenn man Menschen ausgrenzt, wenn man respektlos ist,
wenn man anderen Menschen droht, wenn man sie beschimpft,
wenn man gegen sie hetzt und wenn man die Gesellschaft spaltet,
dann kann man zu einem mächtigen Staatsmann gewählt werden.
Ja, das macht mir Angst!
Dabei habe ich nicht nur Angst vor solchen Staatsmännern, ich habe auch Angst vor denen, die solche Staatsmänner wählen. Nicht unbedingt für mich selbst, aber für die Minderheiten und Ausgegrenzten, die darunter leiden müssen. Und ich habe Angst davor, welche Veränderungen das für die Gesellschaft mit sich bringt.
Ich habe es bereits gesagt: es ist ein schleichender Prozess!
Ein Kind, das mit Ausgrenzungen aufwächst, lernt auszugrenzen.
Ein Kind, das mit Hass aufwächst, lernt zu hassen.
Ein Kind, das mit Gewalt aufwächst, lernt Gewalt anzuwenden.
Was wird am Ende dieser Entwicklung stehen?
Ich habe immer geglaubt, es gibt so etwas wie eine Wertegemeinschaft. Egal, ob ich es nun christliche Wertegemeinschaft nenne oder westliche Wertegemeinschaft. Beiden gemein ist der Respekt und die Würde des Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung.
Lasst uns diese Wertegemeinschaft verteidigen. Hört nicht auf diejenigen, die diese Werte mit Füßen treten, hört nicht auf diese Populisten und Demagogen! Frieden und Freiheit sind nicht selbstverständlich. Sie sind zerbrechlich und müssen immer wieder neu verteidigt werden.
Und jetzt komme ich wieder zurück zu dem zuvor Gesagtem:
Wir brauchen den Volkstrauertag weiterhin, wir müssen die Erinnerung weiterhin wachhalten.
Die Vergangenheit ist nicht vergangen. Die Vergangenheit wird aber verdrängt. Gewalt und Hass sind
gegenwärtig und wir laufen Gefahr, unsere Werte zu verlieren. Und das wäre ein Rückfall in eine Zeit, die wir bereits überwunden geglaubt haben.
Deshalb ist es unsere Pflicht, die Botschaft des Volkstrauertages ernst zu nehmen, uns zu erinnern. Und jeder einzelne von uns, die wir hier sind, muss sich verpflichtet fühlen, die Botschaft des
Volkstrauertages lebendig zu halten.
Gott segne uns!
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