„Wir verlieren unsere Werte“
Auszug aus meiner Rede zum Volkstrauertag
Gerade für uns Deutsche rücken beim Volkstrauertag natürlich die beiden Weltkriege in den Fokus. Beide Weltkriege haben zusammen eine unglaubliche Anzahl an Menschenopfern gefordert. Zusammen ungefähr 75 bis 80 Millionen Tote. 75 bis 80 Millionen Leben, die als Menschenmaterial in den unzähligen Schlachten verheizt wurden. Eine unvorstellbare Zahl! Das entspricht ungefähr der Einwohnerzahl der Bundesrepublik Deutschland. Diese vielen Millionen Opfer stehen für den Irrsinn des Krieges.
Der erste Weltkrieg ist fast einhundert Jahre vorbei, der zweite Weltkrieg mehr als siebzig Jahre. Es gibt die Stimmen, die endlich einen Schlussstrich ziehen wollen, die nichts mehr von den Taten unserer Väter wissen wollen. Wir haben schließlich nichts mehr damit zu tun.
Ich hab schon mehrfach gesagt, dass ich eine solche Haltung ohne Wenn und Aber ablehne. Gerade wegen unserer Vergangenheit, wegen unserer Rolle in den beiden Weltkriegen, erwächst uns Deutschen eine ganz besondere Verantwortung dafür, den Frieden zu bewahren.
Kein einziger von uns, die wir heute hier versammelt sind, trägt Schuld für das, was geschah. Aber jeder einzelne von uns ist verantwortlich dafür, dass es nicht wieder geschieht. Natürlich tragen wir nicht allein die Verantwortung, aber eben doch ein Stück. Mischen Sie sich ein, nehmen Sie Ihre Verantwortung ernst!
Weil die beiden Weltkriege schon so lange vorbei sind, wird nicht nur der Ruf nach dem Schlussstrich immer lauter. Es verändert sich auch unsere Art des Gedenkens. Es gibt kaum noch Zeitzeugen. Wir betrachten dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte nicht nur mit einer immer größer werdenden zeitlichen Distanz, sondern auch mit einer immer größer werdenden emotionalen Distanz.
Das liegt in der Natur der Sache und das meine ich auch gar nicht als Vorwurf. Aber ich sehe dabei die Gefahr, dass unser Gedenken zum bloßen Ritual verkommt: Volkstrauertag, ist immer der zweite Sonntag vor dem ersten Advent und zwar schon seit 65 Jahren. Also legen wir einen Kranz am Ehrenmal nieder. Alle zwei Jahre dann auch noch Pfingsten, denn dann ist Schützenfest in Brakelsiek und da gehört sich das auch so.
Ich halte solche Rituale für wichtig und wir müssen sie unbedingt weiter pflegen. Es darf aber nicht allein bei solchen Ritualen verbleiben! Damit würden wir den Sinn dieser Gedenkfeiern verkennen und sie zur regelmäßigen Pflichtübung werden lassen.
Es ist vielmehr wichtig, dass wir uns mit unserer Vergangenheit immer wieder intensiv auseinandersetzen.
Dass wir uns mit unserer Geschichte beschäftigen.
Und das ist viel, viel mehr, als das Auswendiglernen von Geschichtsdaten, von Jahreszahlen. Wir müssen uns immer wieder die Frage nach dem Warum stellen. Wie konnte es dazu kommen?
Jedem geschichtlichen Ereignis ist eine Entwicklung vorausgegangen, die letztlich zu diesem Ereignis führte. Zu erkennen, welche Entwicklung zum zweiten Weltkrieg geführt hat, ist viel wichtiger, als auswendig zu lernen, dass der zweite Weltkrieg am 1. September 1939 begann und am 8. Mai 1945 – zumindest in Deutschland – endete. (Dieses Wissen gehört allerdings trotzdem dazu!)
Wenn wir aber die geschichtlichen Zusammenhänge erkennen, dann bekommen wir plötzlich einen viel differenzierteren Blick auch auf die heutigen Ereignisse in Deutschland, in Europa und in der Welt. Dann werden wir hellhöriger, nachdenklicher, kritischer in Bezug auf aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen.
Betrachtet man den Weg zum zweiten Weltkrieg, dann ist da ein Aspekt, der gar nicht zu übersehen ist: Es ist der Nationalismus. Der Irrglaube an die Überlegenheit der eigenen Nation oder Rasse hat die Menschen verblendet, hat sie in den Krieg ziehen lassen, hat sie in den Tod getrieben.
Welche Antwort hatten wir nach dem Krieg darauf? Hier in Europa haben wir uns – obwohl wir uns in der Vergangenheit als Todfeinde gegenüberstanden – zu einem einzigartigen Friedensprojekt zusammengeschlossen, der Europäischen Union. Mit dem vereinigten Europa konnten Brücken gebaut werden zwischen ehemals verfeindeten Ländern, zwischen Städten, zwischen Menschen. Mit dem vereinigten Europa konnte der Nationalismus in seiner negativen Ausprägung in großen Teilen überwunden werden.
Natürlich hat die EU eine noch viel umfangreichere Bedeutung. Für mich ist sie aber auch und vor allem ein Friedensprojekt, das aus Feinden Freunde gemacht hat, dass uns viele Jahrzehnte schon Frieden gebracht hat. Und wenn man sich die Geschichte anguckt, so hat es bisher eine so lange Zeit des Friedens noch nicht gegeben. Zumindest nicht in Deutschland.
Der europäische Weg war und ist übrigens durchaus steinig und beschwerlich und natürlich war und ist auch nicht alles gut. Aber es ist der richtige Weg und er hat auf jeden Fall maßgeblich zum Frieden beigetragen. Übrigens auch bis in die Gegenwart hinein Frieden gestiftet. Ich kann mich zum Beispiel noch gut an den Nordirland-Konflikt erinnern. Bis in die späten neunziger Jahre hinein hab es Gewalt und über 3.500 Tote in Nordirland. Es war der nicht aufzulösende Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten. Wobei dies weniger mit dem Glauben zu tun hatte. Es ging darum, dass die katholischen Nationalisten zur Republik Irland gehören wollten, während die Protestanten sich zu Großbritannien zugehörig fühlen. Letztlich hat das gemeinsame Dach der EU diesen Konflikt zumindest in Teilen ins Leere laufen lassen. Es gab ja keine klassische Grenze mehr zwischen der Republik Irland und der britischen Provinz Nordirland. Deswegen mache ich mir übrigens große Sorgen, dass mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU dieser alte Konflikt wieder aufflammen könnte.
Was ist aber falsch gelaufen, dass so viele Menschen, Politiker und auch Regierungen die EU nicht mehr als richtigen Weg, sondern als Sackgasse betrachten? Ich habe darauf keine Antwort.
Vor dem Hintergrund unserer Geschichte macht mir das aber Sorgen. Es macht mir Sorgen, dass in ganz Europa die nationalistischen Stimmen immer lauter werden, dass das Friedensprojekt EU ausgemustert werden soll.
Es gibt noch etwas, was mir Sorgen macht und das hat mit jedem einzelnen von uns zu tun: Uns gehen unsere gesellschaftlichen, unsere moralischen Werte verloren.
Der Umgang der Menschen miteinander und die Verrohung der Sprache machen mich nachdenklich, weil auch das etwas war, was in unserer Vergangenheit auf dem Weg zum Verderben eine große Rolle spielte.
Die Sprache trägt ganz wesentlich dazu bei, wie wir über eine Sache denken und wie wir letztendlich handeln. Gerade öffentliche Debatten spielen hier eine ganz gewichtige Rolle. Weil in öffentlichen Debatten natürlich oftmals Bilder, Metaphern benutzt werden und genau die haben es in sich.
Wenn ich das aber weiß und mit dem Hintergrund unserer Vergangenheit, dann graut es mir, wenn ich so manchen Politiker reden höre. Gerade in den letzten Wahlkampfmonaten.
Manchmal hatte ich ja den Eindruck, dass es bei einigen Politikern – ich betone, dass es sich nur um einige handelt – einen Wettbewerb um das niedrigste Niveau gab. Und ich war manchmal geneigt, darüber im ersten Moment auch noch zu lachen. Allerdings ist davon auszugehen, dass diese Politiker die Macht der Sprache ganz bewusst einsetzen.
Wenn aber diejenigen die öffentlichen Debatten dominieren, die an niedrige Instinkte appellieren und Vorurteile bedienen, dann ist das nicht mehr zum Lachen, dann wird mir angst und bange. Die Sprache ist nämlich der Spiegel ihres Geistes und es ist zu befürchten, dass Sie ihren Worten tatsächlich einmal Taten folgen lassen wollen.
Was macht es in den Köpfen der Menschen aus, wenn ein Spitzenpolitiker davon spricht, jemand anderes „entsorgen“ zu wollen oder wenn von der „menschlichen Überflutung“ die Rede ist?
Und falls Sie jetzt zustimmen und innerlich vielleicht mit dem Finger auf rechte Politiker zeigen, dann muss ich Sie enttäuschen. So einfach ist die Welt nicht. Es war ein bürgerlicher Politiker, der es als „Shuttleservice“ kritisierte, als Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmehr gerettet wurden. Es war eine Politikerin aus dem linken Parteienspektrum, die eine andere Politikerin als „Terroristin“ bezeichnete. Und es war die Tagesschau, die von der „Nacht der langen Messer“ im Zusammenhang mit den aktuellen Sondierungsverhandlungen in Berlin sprach. „Nacht der langen Messer“ wurde von den Nazis im Zusammenhang mit den Nazipogromen verwendet. Von unserem Umgangston in den sozialen Medien brauche ich gar nicht erst zu reden.
Nein, man soll natürlich nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen und natürlich passieren immer mal wieder auch sprachliche Fehlgriffe, die man nicht überbewerten sollte. Ich glaube aber, dass wir im Moment mehr erleben und deshalb sollten wir wachsam sein.
Auch unsere dunkle Vergangenheit ist nicht ganz plötzlich über uns hereingebrochen. Es war eine Entwicklung in vielen kleinen Schritten. Die Verrohung der Sitten und die Verrohung der Sprache verändert unser Miteinander und das ist einer dieser kleinen Schritte. Das ist eine Entwicklung, die wir sehr genau beobachten sollten.
Ja, wir leben in Deutschland seit 72 Jahren in Frieden und Demokratie.
Frieden und Demokratie sind bei uns eine Realität, aber sie sind ganz bestimmt keine Selbstverständlichkeit. Sie müssen immer wieder neu erarbeitet werden und unsere gemeinsame Aufgabe ist es,
daran mitzuarbeiten.
Gucken Sie sich um in der Welt. Kriege und Gewalt kommen immer näher.
Gucken Sie nach Katalonien und führen Sie sich vor Augen, wie schnell eine solche Situation auch in Gewalt oder sogar Bürgerkrieg umschlagen kann Auch der Nordirlandkonflikt, den ich eben bereits
ansprach, könnte wieder angefeuert werden.
Man sieht also, wie zerbrechlich der Frieden ist. Der Frieden ist eben mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Frieden muss immer wieder neu mit Leben gefüllt werden, wir müssen uns immer wieder neu darum bemühen.
Leider wird das alles dadurch erschwert, dass es eben in den seltensten Fällen einfache Lösungen für unsere Probleme gibt. Die Welt ist sehr kompliziert und die einfachen Lösungen, nach dem Motto „einfach mal hart durchgreifen“ gibt es leider nicht. All denjenigen, die uns einfache Lösungen präsentieren wollen, sollten wir mit großem Misstrauen begegnen. Das hat uns unsere Geschichte gelehrt.
Wenn wir also den Wunsch nach Gerechtigkeit, nach Menschlichkeit und nach Frieden haben, dann ist es unsere Pflicht, uns zu erinnern und die Erinnerung wachzuhalten. Es ist unsere Pflicht, am heutigen Volkstrauertag gemeinsam inne zu halten und der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken. Genau das tun wir heute hier und dafür danke ich Ihnen.
Auch wenn wir nicht die Schuld für das Böse tragen, so würden wir uns aber doch schuldig machen, wenn wir es zuließen. Und deswegen appelliere ich an Sie:
Egal, welcher politischen Richtung und welchem Gott wir anhängen, kein Glaube und keine Ideologie darf uns davon abbringen, Mensch zu sein!