Auszüge aus meiner Ansprache zur Gedenkveranstaltung in Brakelsiek
Herzlich Willkommen zur Gedenkveranstaltung hier in Brakelsiek.
Ich freue mich, dass Sie alle gekommen sind, um an dieser Gedenkveranstaltung mitzuwirken, um am heutigen Volkstrauertag gemeinsam inne zu halten und der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft,
aber auch der Opfer von Terrorismus und politischer Verfolgung zu gedenken.
Im Mittelpunkt der Gedenkveranstaltungen am Volkstrauertag stehen zumeist die Opfer der beiden Weltkriege. Diese beiden Weltkriege haben nicht nur eine unvorstellbare Anzahl an Menschenleben gekostet, für die allein schon diese Gedenkveranstaltung notwendig ist.
Nein, diese beiden Weltkriege haben natürlich auch die nachfolgende Entwicklung Deutschlands, Europas und der Welt bestimmt. Viele der Probleme
von heute, haben ihre Ursachen in der Zeit der beiden Weltkriege.Deswegen ist auch das Wissen über unsere Geschichte so wichtig.
In diesem Jahr gehört zum Volkstrauertag natürlich ganz besonders der Blick auf den ersten Weltkrieg. Am 11. November 1918 endete offiziell der
erste Weltkrieg.
Vor genau einer Woche jährte sich dieses Kriegsende also zum 100. Mal.
Gott sei Dank eine lange Zeit, aber das bedeutet auch, dass der Schrecken verblasst. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören aber unbedingt zusammen. Wir dürfen nicht vergessen und man kann nicht einfach die Vergangenheit ruhen lassen, um sich auf die Gegenwart oder Zukunft zu konzentrieren. Das funktioniert so nicht. Der Krieg darf nicht durch Zeitablauf seinen Schrecken verlieren! Ganz im Gegenteil: weil sich der Schrecken verbraucht, der uns aus diesem Krieg eigentlich noch in den Knochen stecken sollte, sind solche Gedenkveranstaltungen wie heute wichtig, um die Erinnerung wach zu halten.
Vielleicht sind sie sogar wichtiger denn je. Denn wenn ich unsere Gesellschaft und die Politik mit kritischen Augen betrachte, dann wird man aktuell erschreckende Parallelen zum Beispiel zur Weimarer Zeit erkennen. Und wohin uns diese Weimarer Zeit geführt hat, brauche ich nicht weiter ausführen. Das sollte uns hellhörig und wachsam werden lassen!
Wir können uns eigentlich glücklich schätzen, dass uns die Vorstellung fehlt, was Krieg eigentlich bedeutet, welchen Schrecken und welches Leid er verursacht. Ja, die Weltkriege hinterließen einen geschundenen Kontinent und viele Millionen Tote. Aber sie sind lange vorbei und deshalb eben sehr abstrakt. Niemand kennt mehr jemanden aus der Zeit des 1. Weltkriegs. Deswegen ist mir immer daran gelegen, diesem Leid ein Gesicht zu geben, einen Namen oder noch besser ein Empfinden.
Da draußen am Ehrenmal stehen die Namen von 135 Gefallenen beider Weltkriege allein aus Brakelsiek. Darunter sind zahlreiche Namen, die sie
kennen: Lessmann, Steimeier, Klenke, Klaus usw.
Damit bekommt das Leid zumindest schon einmal einen Namen und sollte uns mahnen, dass Krieg, wenn es ihn denn gibt, uns sehr nahe kommt und Leid bringt.
Ich finde, wenn man Feldpost oder Augenzeugenberichte liest, dann kann man manchmal erahnen, wie viel Leid und Qualen, der Krieg verursachte und was die Menschen in dieser Zeit bewegte.
[…]
12. Mai 2009:
"Glaubt mir: RedBull, Kippen und Süßigkeiten sind geil, bitte schickt mir weiterhin was. Ich kann nur beweisen, wie viel ein Brief oder ein kleines Päckchen mir bedeuten, indem ich Zeit finde, um zurückzuschreiben."
Wenn man diese Zeilen liest, kann man ein wenig schmunzeln. Ein junger Mann, der in seiner jugendlichen Art ungezwungen das Herz am rechten Fleck hat. Zumindest wenn man nur oberflächlich zuhört. Zwischen den Zeilen erkennt man aber deutlich seine Traurigkeit.
Drei Wochen später wird dieser junge Mann schwer verwundet und er weiß, wie es um ihn bestellt ist. Zum Abschied schreibt er noch einen Brief an seine Familie:
"Hallo ich bin’s, das wird für euch schwer zu lesen sein, aber ich schreibe das in dem Wissen, dass dieser
Brief euch helfen wird, das alles zu überstehen.
Nun kann ich alle Dinge sagen, die ich hoffentlich bereits klar gestellt habe, oder die ich für mich selbst klären möchte.
Mein ganzes Leben lang wart ich für mich da – durch dick und dünn.
Mama, wo fange ich bei dir an?
Erstens, du bist perfekt, dein Geruch, deine Umarmungen, die Weise wie du dein Leben uns Jungs verschrieben hast und wie du jeden Schritt, den wir taten, bestärkt hast. Ich liebe dich.
Du warst der Grund dafür, dass ich es so weit gebracht habe und dass ich mehr geliebt wurde als jedes andere Kind.
Denkt dran, euch nicht zu Tode zu trauern und - egal wie schwer das scheint - feiert dieses tolle Leben, das viele Höhen und Tiefen hat. Ich liebe euch mehr, als ihr es jemals wissen werdet.“
Noch bevor der Brief zuhause ankam, ist dieser junge Mann gestorben. Auf dem Feld der Ehre gefallen, mit gerade einmal 19 Jahren.
„feiert dieses tolle Leben!“
Das ruft uns ein junger Mann zu, der im Sterben liegt. Nicht, weil ihm das Schicksal übel mitgespielt hat und er eine tödliche Krankheit hat oder weil er verunglückt ist. Nein, er liegt im
Sterben, weil er in den Krieg geschickt wurde. Er wurde in den Tod geschickt und fordert uns auf, „feiert dieses tolle Leben!“
Mir geht so etwas nah und ich verstehe das als Auftrag, dass wir uns alle unserer Verantwortung stellen müssen.
Aus diesem Grund habe ich zwei ehrlich gemeinte Bitten an jeden einzelnen von Ihnen:
Meine erste Bitte ist, dass wir auch zukünftig am Volkstrauertag und - hier in
Brakelsiek alle zwei Jahre - beim Schützenfest der zahlreichen Opfer gedenken.
Es geht ja nicht darum, dass wir das kriegerische Handeln oder die damaligen Ansichten rechtfertigen. Ganz im Gegenteil. Es geht darum, dass wir uns des Leides erinnern, dass wir die Erinnerungen
an die unzähligen Opfer wachhalten.
[…]
Helfen Sie also mit, die Erinnerungen wachzuhalten, um so unsere Jugend, unsere Zukunft zu verschonen. Halten wir an den Gedenkveranstaltungen fest und lassen Sie das Ehrenmal hier auf dem Brakelsieker Friedhof ein Mahnmal für den Frieden sein.
Meine zweite Bitte ist, dass wir uns denen entgegenstellen, die unser friedliches Zusammenleben zerstören wollen. Damit meine ich nicht, dass wir besser den Mund halten, wenn jemand dumpfe Parolen ruft. Nein, ich möchte, dass wir uns dem entgegenstellen.
Auseinandersetzungen zwischen den Völkern, zwischen den Ländern haben immer eine Vorgeschichte. Da werden Vorurteile bedient, da werden Ressentiments geschürt, da wird das Fremde, das andersartige schlechtgeredet. Man stellt sich als etwas Besseres dar, man wertet den anderen ab. Aber Selbstherrlichkeit und Überlegenheitsgefühle wandeln sich irgendwann zum Hass und führen zu Aggressionen.
In öffentlichen Diskussionen wird aber genau dieses gemacht. In den Parlamenten in Deutschland, in Europa und der Welt gibt es leider wieder viele Politiker, die diese plumpen Strategien erfolgreich anwenden.
Man hört in diesem Zusammenhang immer: „wehret den Anfängen!“ Ich sorge mich allerdings, dass das schon längst keine Anfänge mehr sind.
Anstatt froh zu sein, wohin wir insbesondere in Europa gekommen sind, anstatt froh zu sein, wie lange wir jetzt schon in Frieden leben dürfen, anstatt mit diesem Geschenk verantwortungsvoll umzugehen, schüren die Populisten Konflikte und viel zu viele gehen ihnen auf den Leim.
Ich habe zum Beispiel immer geglaubt, dass in Deutschland Antisemitismus und Ausländerhass nie wieder gesellschaftsfähig werden würden. Aber genau diese Situation haben wir wieder. Antisemitismus und Ausländerhass sitzen wieder in unseren Parlamenten und gehen massenhaft auf die Straße.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich geglaubt habe, dass unsere Demokratie so weit gefestigt sei, dass sie immer wieder extreme Gruppierungen aushalten wird. Ich bin mir dessen nicht mehr so sicher. Unsere Demokratie und unser Frieden bröckeln. Langsam, aber stetig. Und deswegen müssen wir etwas tun.
Ich sehe mittlerweile, eine konkrete Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung. Wegen dieser laut schreienden Populisten an den politischen Rändern. Aber auch – und das macht mir große Sorgen – wegen der schweigenden Masse und wegen der Gleichgültigkeit der großen Mehrheit.
Es ist eine Schande, wenn wir mit dem Wissen um unsere Geschichte, mit dem Wissen um die Folgen der verbrecherischen Ideologie, diesen Leuten erneut nachlaufen. Es ist aber auch eine Schande, wenn wir mit dem Wissen um unsere Geschichte, mit dem Wissen um die Folgen der verbrecherischen Ideologie, uns diesen Leuten nicht entgegenstellen.
Hört auf, die Parolen im Fernsehen, im Radio, im Internet oder im persönlichen Gespräch still hinzunehmen! Sie führen nichts Gutes im Schilde. Sie haben Hass als ihre Strategie entdeckt und unsere Zurückhaltung ist ihre Existenzgrundlage. Tretet Ihnen also entgegen.
Denken Sie bitte daran, dass man nicht schon deshalb ein guter Demokrat, weil man gegen eine Diktatur ist. Nein, man muss sich vielmehr aktiv für die Demokratie einsetzen. Erst dann ist man ein guter Demokrat. Genauso wenig reicht es aus, gegen den Krieg zu sein. Man muss sich vielmehr aktiv um Frieden bemühen.
Man ist übrigens kein Nestbeschmutzer - auch so eine Parole der Hetzer-, wenn man sich der Verantwortung stellt, die aus unserer Vergangenheit erwächst. Ganz im Gegenteil, dadurch wird unser Nest gesäubert.
Stellen Sie sich also aktiv den Hetzern entgegen. Nehmen Sie es nicht hin, wenn die extremen politischen Ränder unsere Gesellschaft zerstören.Ich möchte nicht, dass diejenigen die moralischen Maßstäbe definieren, die selbst keine Moral haben. Ich möchte nicht, dass unsere Gesellschaft den Anstand verliert, dass wir unsere Menschlichkeit aufgegeben.
Seien Sie also wachsam und nicht gleichgültig, sondern aktiv. Demokratie und Frieden sind nämlich keine Selbstverständlichkeit. Demokratie und Frieden müssen jeden Tag von uns allen verteidigt werden.